Familienfreundlichkeit von Kinderkrankenhäusern in Estland und Deutschland
Von Adik Levin und Karl Ernst von Mühlendahl
In Deutschland ist man in den Kinderkrankenhäusern sein 1970 einen weiten Weg gegangen: Die Besuchszeiten sind kaum noch eingeschränkt, es sind Möglichkeiten zur Elternmitaufnahme geschaffen worden, die Intensivstationen sind längst nicht mehr terra sancta für die Eltern. Sind wir damit schon an einem guten Ende angekommen? Ein Blick über die Grenzen kann bei der Beantwortung dieser Frage hilfreich sein. Die seit mehreren Jahren bestehende partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Kinderkliniken in Tallinn (Lastehaigla) und in Osnabrück (Kinderhospital Osnabrück) erlaubt zu dieser Frage eine vergleichende Standortbestimmung.
Lastehaigla in Tallinn
Die Kinderklinik (Lastehaigla) in Tallinn ist das Schwerpunktkrankenhaus für die Stadt (500 000 Einwohner) und für das nördliche und westliche Estland (500 000 Einwohner), ist also zuständing für insgesamt 250 000 Kinder. Die Kinderklinik Lastehaigla betreut mit einem Inkubator-Abholdienst alle geburtshilflichen Krankenhäuser in Tallinn und Nordwestestland. Im Hause selbst gibt es keine Entbindungsstation, so daß – ebenso wie in Osnabrück – alle Patienten von auswärts geholt werden müssen. Es gibt eine Intensivstation auf die alle schwerkranken Kinder, insbesondere solche, die beatmet werden müssen, aufgenommen werden.
Räumlichkeiten
Auf der Säuglingsstation gibt es 15 Zimmer à 12 qm, auf der Früh- und Neugeborenenstation 13 Zimmer à 12 qm. Die nicht oder nicht mehr einer Intensivbehandlungoder einer Intensivpflege bedürftigen Kinder werden auf der Frühgeborenenstation (50 Betten) behandelt.
Die Säuglingsstation hat 20 Betten. Da infektiöse Säuglinge mit Atemwegs- und Durchfallerkrankungen andernorts behandelt werden, ist die Zusammensetzung der zur Aufnahme führender Diagnosen ganz anders als in Osnabrück, damit auch die durchschnittliche Liegezeit. Somit sind beide Stationen nur bedingt vergleichbar. Ähnlich wie in Osnabrück sind alle Zimmer durch die zum Flur und zu den Nachbarzimmern führender Fenster einzusehen. In den meisten Zimmern können zwei Mütterbetten und zwei Bettchen oder Inkubatoren für Patienten untergebracht werden. Die Mütter essen in den Krankenzimmern, im Gegensatz zu Osnabrück, wo die Mahlzeiten in der Cafeteria eingenommen werden sollen. Unterbringung und Verpflegung werden unentgeltlich gewährt.
Mitarbeiterstab. Für beide Stationen sind sieben Kinderärzte, ein Gynäkologe, eine Hebamme, zwei Psychologen, drei Krankengymastinnen bzw. Physiotherapeuten vorhanden. Dafür ist der Schwesternschlüssel viel schlechter als in Osnabrück (insgesamt lediglich 16 Kinderkrankenschwestern).
Die räumlichen Verhältnisse in Osnabrück
Auf der Säuglingstation ist in den 9 Zimmern bereits bei mittlerer Belegung der verfügbare Raum durch Säuglingsbetten, Wickeltische, Badewannen und Stühle für Besucher besetzt, so daß für die Eltern in den meisten der Zimmer selbst keine Schlafgelegenheiten bereitgestellt werden können. Wegen ihrer Glasfenstern zum Flur und zu den Nachbarzimmern eignen sich diese Räume ohnehin schlecht als Elternschlafräume. In zwei an den Enden der Station gelegenen Zimmern können Eltern auf eingeschobenen Liegen zusammen mit den Kindern untergebracht werden. Ferner befindet sich auf der Station ein zusätzliches Schlafzimmer mit Naßzelle für drei Mütter. Diese Schlafgelegenheiten sind gefragt, so daß nicht alle Mütter, die das wünschen, einen solchen Platz bekommen. Eltern können aber andernorts im Kinderhospital untergebracht werden.
Kostenbeteiligung. Bei stillenden Müttern sowie bei Müttern, die mehr als 30 km entfernt von Osnabrück wohnen oder solchen, die finanziell schwach gestellt sind, ist die Unterbringung kostenfrei. Sonst müssen 17,- DM/Nacht bezahlt werden. Die Verpflegung in der Cafeteria mit etwa 10,- DM/Tag wird nur bei sozialer Bedürftigkeit umsonst gewährt.
Auf der kombinierten Intensiv- und Frühgeborenenstation werden die Kindern in 5 Zimern behandelt. Auf dieser Station gibt es ein größeres Stillzimmer, in das sich oft mehrere Eltern gleichzeitig mit ihren Kindern zurückiehen. Die Möglichkeit für eine Übernachtung von Eltern besteht nur in einem einzigen Einbettzimmer, das in der Regel für ältere Kinder mit akuten Notfällen reserviert bleibt. Eltern von Kindern auf der Frühgeborenen- und Intensivstation können im Schwesternwohnheim zu den gleichen Bedingungen untergebracht werden, wie sie für die Säuglingsstation beschrieben sind.
Häufigkeit der Elternmitaufnahmen
In Osnabrück werden die Mütter (fast immer sind es ja nicht die Väter, so daß in diesem Kontext Eltern und Mütter Synonyma sind) von etwa 15% der Säuglinge und weniger als 10% der Frühgeborenen mit aufgenommen, zumeist in einem Schlafraum im Schwesternwohnheim, die Mütter von Frühgeborenen fast immer erst nach Abklingen der geburtshilflich bedingten Probleme.
In Tallinn dagegen werden 97% Mütter mit aufgenommen.
Einbeziehung der Mütter in Pflege und Behandlung
In Osnabrück werden die Mütter dazu ermutigt, frühzeitig, bereits im Inkubator Berührungskontakt mit den Kindern aufzunehmen, die Kinder selbst zu wickeln und zu füttern und zu pflegen.
Zunähst aufgrund des großen Schwesternmangels, schon längst aber in das übergreifende Konzept eingebunden, werden die Mütter in Tallinn so angeleitet, daß sie über den gesamten Zeitraum von 24 Stunden Pflege, dabei auch das Sondieren der Nahrung, Protokollierung von wichtigen Daten und Überwachung übernehmen. Die Mütter werden ermutigt, die Kinder viel mit sich herumzutragen (Känguruhmethode). Schwestern verabreichen Medikamente und sind für \”technische\” Probleme bei Pflege und Therapie verantwortlich. Fast alle Mütter stillen nach Bedarf oder drücken ihre Milch aus und sondieren sie, wobei ie Kinder gleichzeitig zum Saugen an den Brustwarzen animiert werden.
Die Hauptunterschiede
– In Tallinn werden grundsätzlich (fast) alle Mütter im Zimmer ihres Kindes mit aufgenommen.
– Sie sind über den gesamten Zeitraum anwesend und für die Pflege und Überwachung zuständing.
– Daraus resultierend werden wesentlich weniger Schwestern benötigt; der Wechsel im Pflegepersonal ist dementsprechend geringer.
– In Tallinn werden die Mütter bald nach der Geburt, nicht erst nach Ende des Wochenbettes, mit aufgenomnen.
Sind wir in Deutschland schon an einem guten Ende angekommen?
Die eingangs erhobene Frage muß, wie der Blick nach Tallinn zeigt, mit einem Nein beantwortet werden. Ersichtliche Vorteile sind bei dem estnischen Modell:
Sind wir in Deutschland schon an einem guten Ende angekommen?
Die eingangs erhobene Frage muß, wie der Blick nach Tallinn zeigt, mit einem Nein beantwortet werden. Ersichtliche Vorteile sind bei dem estnischen Modell:
Die psychologische Nabelschnur bleibt erhalten. Auch nach 40wöchiger Schwangerschaftsdauer werden Menschenkinder extrem unreif geboren, und nach Durchtrennen der anatomischen Nabelschnur bleibt die Intaktheit der biologischen und psychologischen Nabelschnur noch für längere Zeit außerordentlich wichtig. Dabei kann insbesondere in den ersten Tagen nach der Geburt eine Unterbindung dieser Verbindung problematisch sein und sollte, wenn irgend möglich, vermieden werden.
Ein Kinder- und familienfreundliches Krankenhaus muß darauf Rücksicht nehmen. Das geschieht in Lastehaigla in sehr viel umfassenderer weise als im Kinderhospital Osnabrück, obwohl wir uns auch dort seit Jahren sehr intensiv um Kinder- und Elternfreundlichkeit bemühen.
Zusammenfassung: Im Kinderhospital Osnabrück können Mütter von kranken Neugeborenen und Säuglingen unter durchaus akzeptablen Bedingungen mit aufgenommen werden. Das Angebot wird von nicht mehr als 15 Prozent der Familien angenommen. In der Kinderklinik (Lastehaigla) in Tallinn/Estland bleiben unter äußerlich viel weniger bequernen Umständen praktisch alle Mütter bei ihren kranken Neugeborenen und Säuglingen. Für Wöchnerinnen sind ein Geburtshelfer und zwei Hebammen ganztägig in der Kinderklinik tätig. So können Mütter sehr bald nach der Entbindung in die Kinderklinik verlegt werden. Auf diese Weise kann bei sehr vielen kranken Neugeborenen die biologische und psychologische Nabelschnur erhalten bleiben. Wie wichtig das ist, läßt sich unter anderem am besseren somatischen Gedeihen der Kinder, die von ihren Müttern betreut werden, ablesen. Die viel höhere Akzeptanz der Müttermitaufnahme in Estland mag mit dem niedrigeren Lebensstandard zu tun haben. Es könnte sein, daß Reichtum und Komfort in Deutschland zu Bequemlichkeit und Abhängigkeit von materiellen Dingen geführt haben, die für kranke Kinder nicht förderlich sind.
Schlüsselwörter: Elternmitaufnahme, Entwicklungsvorteile.
Entwicklungsvortelle. Ein offensichtlicher, zahlenmäßig belegbarer guter Effekt ist an der Gewichtszunahme abzulesen. Die von ihren Müttern betreuten Kinder gedeihen besser. 1988 und 1989 wurden in Tallinn 87 Kinder, die von ihren Müttern betreut wurden, mit 72 von den Schwestern gepflegten Kindern verglichen. Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht von im Mittel 2200 g hatten dann, wenn die Mütter die Kinder betreuten, nach 3 Wochen im Durchscnitt ein Gewicht von 2850 g erreicht, bei Betreuung durch die Schwestern von 2600 g. Hinsichtlich Schwangerschaftsdauer, Geburtsgewicht und Diagnosen waren beide Gruppen fast identisch. Die Gründe dafür, daß sich in der zweiten Gruppe Mütter nicht selbst im Krankenhaus um die Kinder kümmerten, waren gesundheitliche oder familiäre Probleme, nicht Vernachlässigung oder Mangel an Interesse.
Geringere Infektanfälligkeit. Wir haben zudem den sehr deutlichen, bislang aber nicht zahlenmäßig statistisch belegbaren Eindruck, daß bei den von den Müttern betreuten Neugeborenen die Infekthäufigkeit geringer und die neurologische Entwicklung besser waren.
Estland als Vorbild, Deutschland als Entwicklungsland?
In Deutschland sollte man intensiv daran arbeiten, daß die ganztägige Elternmitaufnahme im Krankenzimmer bei Neugeborenen und Säuglingen (und bei Kleinkindern) möglich wird. Allerdings ist abzusehen, daß bei der augenblicklichen finanziellen Knappheit die dafür notwendigen äußerlichen Bedingungen nicht ohne weiteres geschaffen werden können.
Allerdings bleibt zu bezweifeln, ob man in Deutschland auch bei einem vorgehaltenen Angebot zur Elternmitaufnahme einen ähnlich hohen Prozentsaz von Müttern dazu bewegen könnte, die häusliche Bequemlichkeit zugunsten der auch unter besten Bedingungen recht primitiven Wohnmöglichkeiten im Krankenzimmer aufzugeben. Viele Mütter haben auch noch den Rest einer Familie zu versorgen. In Estland ist esbei natürlich vergleichbaren notwendigen Einschränkungen offensichtlich möglich, fast alle Mütter in das Krankenhaus zu ihren kranken Kindern zu bekommen.
Es muß also darauf hingearbeitet werden, daß Mütter ein solches Angebot annehmen, und daß sie ihre kranken Kinder mit ihren Bedürfnissen und Nöten in den Mitelpunkt und die eigene Bequemlichkeit in den Hintergrund stellen. Woran liegt es, daß ein wirtschaftlich viel ärmeres Land wie Estland beides – Bereitstellung und Akzeptanz – viel besser verwirklicht hat als wir in Deutschland? Sind wir \”zu reich\”, um derartiges zu realisieren?
Summary: Family kindness in children’s clinics in Estonia and Germany
In the Kinderhospital in Osnabrück, rooming-in is offered to all mothers of sick newborns and infants. Conditions are quite acceptable, though not luxurious. Less than 15 percent of the mothers make use of this possibility, whereas in the Children’s Clinic (Lastehaigla) in Tallinn/Estonia, in a similar – although much less comfortable – setting practically all mothers stay with their sick children. In the Lastehaigla one obstetrician and two midwives work full day on the pediatric unit. This makes possible the transfer of the mothers to the pediatric wards very soon after delivery. Thus, the biological and psychological umbilical cord can remain intact which, among other things, yields measurably better results in the somatic thriving of the newborns. One reason for the lower acceptance of rooming-in in Germany may be the high economic standard. Possibly, many mothers may hesitate to give up – even temporarily – domestic surroundings and comfort.
Keywords: Rooming-in, advantages in psychological and somatic development.
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